Staunen

Alles Sichtbare ist Ausdruck, alle Natur ist Bild, ist Sprache und farbige Hieroglyphenschrift. Wir sind heute trotz einer hochentwickelten Naturwissenschaft, für das eigentliche Schauen nicht eben gut vorbereitet und erzogen. Andere Zeiten, vielleicht alle früheren Epochen bis zur Eroberung der Erde durch die Technik und Industrie, haben für die zauberhafte Zeichensprache der Natur ein Gefühl und Verständnis gehabt und haben sie einfacher und unschuldiger zu lesen verstanden als wir. Der Sinn für die Sprache der Natur, der Sinn für die Freude am Mannigfaltigen, welche das zeugende Leben überall zeigt, und der Drang nach irgendeiner Deutung dieser mannigfaltigen Sprache ist so alt wie der Mensch. Die Ahnung einer verborgenen, heiligen Einheit hinter der großen Mannigfaltigkeit, einer Urmutter hinter all den Geburten, eines Schöpfers hinter all den Geschöpfen ist die Wurzel aller Kunst gewesen und ist es heute wie immer. Wir haben es zur Zeit recht schwer, die Natur so harmlos in Mythen umzudichten und den Schöpfer so kindlich zu personifizieren und als Vater anzubeten, wie es andere Zeiten tun konnten. Ein uralter Weg, der den Menschen zur Seligkeit oder zur Weis-heit zu führen vermag, der einfachste und kindlichste, ist der Weg des Staunens über die Natur und des ahnungsvollen Lauschens auf ihre Sprache. Jedes Mal, wenn ich mit dem Auge oder mit einem andern Körpersinn ein Stück Natur erlebe, wenn ich von ihm angezogen und bezaubert bin und mich seinem Dasein und seiner Offenbarung für einen Augenblick öffne, dann habe ich in diesem selben Augenblick die ganze habsüchtige blinde Welt der menschlichen Notdurft vergessen, und statt zu denken und zu befehlen, statt zu erwerben oder auszubeuten, zu bekämpfen oder zu organisieren, tue ich für diesen Augenblick nichts anderes als „erstaunen“ und bin mit diesem Erstaunen Bruder alles dessen, was ich bestaune und als lebendige Welt erlebe.

Hermann Hesse 1935 (gekürzt von S. Resch)